Eigenschaften/WirkungenATC-Code
H01AB01
Wirkungsmechanismus/Pharmakodynamik
Thyrotropin alfa (rekombinantes humanes Schilddrüsen-stimulierendes Hormon) ist ein heterodimeres Glykoprotein, das mit rekombinanter DNS-Technologie hergestellt wurde. Es besteht aus zwei nicht kovalent miteinander verbundenen Untereinheiten. Die cDNS kodiert für eine alpha-Untereinheit aus 92 Aminosäureresten mit zwei N-Glykosylierungsstellen und eine beta-Untereinheit aus 118 Aminosäureresten mit einer N-Glykosylierungsstelle. Thyrotropin alfa hat dem natürlichen humanen Schilddrüsen-stimulierenden Hormon (TSH) vergleichbare biochemische Eigenschaften. Durch die Bindung von Thyrotropin alfa an TSH-Rezeptoren auf den Schilddrüsenepithelzellen wird die Aufnahme und die Bindung von Jod sowie die Synthese und die Freisetzung von Thyreoglobulin, Trijodthyronin (T3) und Thyroxin (T4) angeregt.
Bei Patienten mit gut differenziertem Schilddrüsenkarzinom wird die Schilddrüse fast vollständig oder vollständig entfernt. Für eine optimale Diagnostik von Schilddrüsenrestgewebe oder Karzinom mit der Radiojod-Ganzkörperszintigraphie oder dem Thyreoglobulin-Test und für die Radiojod-Therapie von Schilddrüsenrestgewebe ist ein erhöhter TSH-Serumspiegel notwendig, damit die Aufnahme von Radiojod und/oder die Sekretion von Thyreoglobulin angeregt wird. Um erhöhte TSH-Serumspiegel zu erhalten, wird üblicherweise die Schilddrüsenhormon-Suppressionstherapie (THST) bei den Patienten abgesetzt. Normalerweise führt dies bei den Patienten zu den Anzeichen und den Symptomen einer Hypothyreose. Mit Thyrogen wird die für die Aufnahme von Radiojod und die Sekretion von Thyreoglobulin notwendige TSH-Stimulation erreicht, während die Patienten im euthyreoten Zustand unter THST verbleiben. Dadurch wird die mit der Hypothyreose verbundene Morbidität vermieden.
Klinische Wirksamkeit
Diagnostische Verwendung
Die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit von Thyrogen für den Einsatz bei der Radiojod-Ganzkörperszintigraphie in Kombination mit dem Serum-Thyreoglobulin-Test, um Schilddrüsenreste und Karzinom-Gewebe zu diagnostizieren, wurden in zwei Studien gezeigt. In einer der beiden Studien wurden zwei Dosierungen untersucht: zweimalige intramuskuläre Injektion mit je 0,9 mg im Abstand von je 24 Stunden (0,9 mg × 2), sowie dreimalige intramuskuläre Injektion mit je 0,9 mg im Abstand von je 72 Stunden (0,9 mg × 3). Beide Dosierungen waren wirksam und zeigten im Vergleich zum Absetzen des Schilddrüsenhormons keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Aufnahme von Radiojod für die Ganzkörperszintigraphie. Beide Dosierungen verbesserten die Sensitivität, die Genauigkeit und den negativen prädiktiven Wert von Thyrotropin-alfa-stimulierten Thyreoglobulinspiegeln allein oder in Kombination mit der Radiojod-Ganzkörperszintigraphie, was der Vergleich mit Tests zeigt, die an Patienten unter Beibehaltung der Schilddrüsenhormon-Suppressionstherapie durchgeführt wurden.
In klinischen Studien wurde ein Thyreoglobulin-Test mit einer unteren Nachweisgrenze von 0,5 ng/ml zum Nachweis von Schilddrüsenresten oder des Wiederauftretens von Karzinomen bei thyreoidektomierten Patienten verwendet. Dabei entsprachen die Thyrogen-stimulierten Thyreoglobulinspiegel von 3 ng/ml, 2 ng/ml und 1 ng/ml den Thyreoglobulinspiegeln nach dem Absetzen der Schilddrüsenhormon-Suppressionstherapie von 10 ng/ml, 5 ng/ml und 2 ng/ml. In diesen Studien erwiesen sich Thyreoglobulin-Tests unter Thyrogen als empfindlicher als Thyreoglobulin-Tests unter THST. Insbesondere in einer Phase-III-Studie mit 164 Patienten lag die Nachweisrate für Schilddrüsengewebe nach einem Thyreoglobulin-Test unter Thyrogen zwischen 73 % und 87 %, während dieser Wert für dieselben Grenzwerte und vergleichbare Referenzstandards bei Thyreoglobulin-Tests unter THST 42 % bis 62 % betrug.
Durch Szintigraphie oder Lymphknotenbiopsie wurden in der Nachsorge Metastasen bei 35 Patienten nachgewiesen. Bei allen Patienten lagen die Thyrogen-stimulierten Thyreoglobulinspiegel bei über 2 ng/ml, während Werte von über 2 ng/ml für Thyreoglobulin während einer THST bei 79 % dieser Patienten ermittelt wurden.
Kontrollierte Untersuchungen mittels Thyrogen-stimulierter Tg-Spiegel im Follow-up zur Überwachung von Patienten mit niedrigem Gefährdungspotential wurden nicht durchgeführt.
Prätherapeutische Stimulierung
In einer vergleichenden Studie an 60 thyreoidektomierten Patienten mit Schilddrüsenkarzinom ohne Beweis von Fernmetastasen waren die Raten einer erfolgreichen Ablation von Schilddrüsenrestgewebe mit 100 mCi / 3,7 GBq (± 10 %) Radiojod zwischen Patienten, die nach Absetzen der Schilddrüsenhormone ablatiert worden waren, und Patienten, die nach Verabreichung von Thyrogen ablatiert worden waren, vergleichbar. Bei den untersuchten Patienten handelte es sich um Erwachsene (> 18 Jahre) mit neu diagnostiziertem, differenziertem papillären oder follikulären Schilddrüsenkarzinom, einschliesslich der papillär-follikulären Variante, vorwiegend (54 von 60 Patienten) im Stadium T1–T2, N0–N1, M0 (TNM-Klassifikation); zwei Patienten im Stadium T4 wurden ebenfalls behandelt. Der Erfolg der Ablation von Restgewebe wurde mittels Radiojod-Ganzkörperszintigraphie und dem Serum-Thyreoglobulin-Test 8 ± 1 Monate nach der Behandlung beurteilt. Alle 28 Patienten (100 %), die nach Absetzen der THST behandelt worden waren, und alle 32 Patienten (100 %), die nach Verabreichung von Thyrogen behandelt worden waren, zeigten entweder keine sichtbare Aufnahme von Radiojod im Schilddrüsenbett oder die Aufnahme im Schilddrüsenbett lag, sofern sie sichtbar war, bei <0,1 % der verabreichten Radiojod-Dosis. Der Erfolg der Ablation von Schilddrüsenrestgewebe wurde auch anhand des Kriteriums des durch Thyrogen stimulierten Tg-Serumspiegels von <2 ng/ml acht Monate nach der Ablation untersucht, aber nur bei Patienten, die keine Anti-Tg-Antikörper aufwiesen. Anhand des Tg-Kriteriums konnte gezeigt werden, dass bei 18/21 Patienten (86 %) in der Gruppe mit Absetzen der THST bzw. bei 23/24 Patienten (96 %) in der Gruppe mit Thyrogen-Behandlung Schilddrüsenrestgewebe durch Ablation erfolgreich entfernt wurde.
Bei beiden Thyrotropin-alfa-Dosierungen bei beiden Indikationen war keine Verringerung der Lebensqualität festzustellen, wie sie üblicherweise nach dem Absetzen von Schilddrüsenhormonen beobachtet wird, sondern eher eine Stabilisierung.
An Patienten, die bereits die erste Studie beendet hatten, wurde eine Nachfolgestudie durchgeführt. Daten für 51 Patienten liegen vor. Hauptziel der Nachfolgestudie war die Bestätigung des Status der Ablation von Schilddrüsenrestgewebe durch statische Radiojod-Szintigraphie vom Hals mit Thyrogenstimulation nach einer medianen Beobachtungszeit von 3,7 Jahren (Bereich 3,4 bis 4,4 Jahre) nach der Radiojod-Ablation. Darüber hinaus wurde ein Thyreoglobulin-Test mit Thyrogenstimulation durchgeführt.
Die Patienten waren noch erfolgreich ablatiert, wenn das Szintigramm keine sichtbare Schilddrüsenbettaufnahme zeigte oder wenn eine sichtbare Aufnahme unter 0,1 % lag. Bei allen Patienten, die in der ersten Studie als ablatiert galten, wurde die Ablation in der Nachfolgestudie bestätigt. Darüber hinaus trat bei keinem Patienten innerhalb der Beobachtungszeit von 3,7 Jahren ein definitives Rezidiv auf. Insgesamt zeigten 48 von 51 Patienten (94 %) keine Hinweise auf ein Krebsrezidiv. 1 Patient hatte ein mögliches Krebsrezidiv (wobei aber unklar war, ob dieser Patient ein echtes Rezidiv hatte oder ob es sich um einen persistierenden Tumor der regionalen Erkrankung, die zu Beginn der Originalstudie festgestellt wurde, handelte). Bei 2 Patienten war keine Beurteilung möglich.
Zusammenfassend war Thyrogen in der Pivot-Studie und in der Nachfolgestudie dem Absetzen von Schilddrüsenhormon bei der Erhöhung der TSH-Spiegel zur prätherapeutischen Stimulierung in Kombination mit Radiojod zur postoperativen Ablation von Schilddrüsenrestgewebe nicht unterlegen.
In zwei grossen prospektiven, randomisierten Studien (HiLo-Studie [Mallick et al., 2012] und ESTIMABL1-Studie [Schlumberger et al., 2012]) wurden Methoden zur Ablation von Schilddrüsenrestgewebe bei thyreoidektomierten Patienten mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom verglichen. In beiden Studien wurden die Patienten in eine der vier Behandlungsgruppen randomisiert: Thyrogen + 30 mCi 131-I, Thyrogen + 100 mCi 131-I, Absetzen der Schilddrüsenhormone + 30 mCi 131-I oder Absetzen der Schilddrüsenhormone + 100 mCi 131-I. Die Patienten wurden ca. 8 Monate später beurteilt. Für die HiLo-Studie wurden 438 Patienten (Tumorstadien T1–T3, Nx, N0 und N1, M0) in 29 Zentren randomisiert. Die Beurteilung durch Radiojod-Ganzkörperszintigraphie und stimulierte Tg-Spiegel (n = 421) ergab Raten einer erfolgreichen Ablation von ca. 86 % in allen vier Behandlungsgruppen. Alle 95%-Konfidenzintervalle der Unterschiede lagen innerhalb ±10 %, was auf die Nicht-Unterlegenheit der niedrigen zur hohen Radiojodaktivität hinweist. Untersuchungen von T3- und N1-Patienten zeigten, dass die Rate einer erfolgreichen Ablation in diesen Untergruppen gleichermassen gut ist wie bei Patienten mit geringerem Risiko. Für die ESTIMABL1-Studie wurden 752 Patienten mit einem Schilddrüsenkarzinom mit geringem Gefährdungsgrad (Tumorstadien pT1<1 cm und N1 oder Nx, pT1>1–2 cm und alle N-Stadien oder pT2 N0, alle M0-Patienten) in 24 Zentren randomisiert. Basierend auf 684 auswertbaren Patienten betrug die durch Schilddrüsensonographie und stimulierte Tg-Spiegel ermittelte Rate einer global erfolgreichen Ablation 92 %, ohne statistisch signifikante Unterschiede zwischen den vier Gruppen. In den beiden oben genannten Studien wurde auch die Rezidivrate untersucht. In der Studie ESTIMABL1 (Schlumberger et al., 2018) betrug die mediane Nachbeobachtungszeit 5,4 Jahre (Bereich: 0,5 bis 9,2 Jahre), in der HiLo-Studie (Dehbi et al., 2018) betrug die mediane Nachbeobachtungszeit 6,5 Jahre (Bereich: 4,5 bis 7,6 Jahre). Die Langzeit-Beobachtungsdaten der beiden Studien deuten darauf hin, dass das Rezidivrisiko unabhängig davon ist, ob zur Steigerung der Radiojodaufnahme im Schilddrüsenrestgewebe Thyrotropin alfa verwendet oder die Substitution mit Schilddrüsenhormon vorübergehend abgesetzt wird.
Zusammenfassend deuten diese Studien darauf hin, dass Thyrotropin alfa eine wirksame Behandlung darstellt und Thyrogen dem Absetzen von Schilddrüsenhormonen zur prätherapeutischen Stimulierung in Kombination mit Radiojod zur postoperativen Ablation von Schilddrüsenrestgewebe nicht unterlegen ist.
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